Ich sass auf staubigem Boden und schaute in den klaren Nachthimmel. Die unzähligen Sterne leuchteten wie funkelnde Diamanten. Der Anblick war atemberaubend und liess mich staunend über die Schönheit der Natur zurück. Meine Kerze flackerte neben mir und erhellte mein Zelt. Immer, wenn ich ein Geräusch hörte, blies ich sie aus. Diese Nacht sollte nur mir allein gehören und ich nahm mir diesen Moment der Stille, um den Frieden der Natur zu geniessen. Es wurde immer kühler und bald ist es für mich Zeit, in mein Zelt zu gehen und den Tag hinter mir zu lassen. Ich blies die Kerze endgültig aus und schlüpfte in meinen Schlafsack. Diese Momente waren es, die mich davor bewahrt haben, den Verstand zu verlieren.
Diese Momente haben mir geholfen, dem Wahnsinn Marokkos zu entfliehen.
Marokko, 28. Dezember 2019, 20:44 – Steppe auf der Sahara-Seite des Atlas.
Im Flugzeug von der Ukraine nach Hause setzte ich das Versprechen, zukünftige Reise ohne Flugzeug zu bestreiten. Also suchte ich nach einer warmen Winterdestination, die durch eine Alternative erreichbar ist. Kurzerhand entschied ich mach für Marokko und kaufte für einen Schnäppchen von 150 Franken zwei Fährtickets von Genua nach Tangier und zurück. Fast einen Monat hatte ich Zeit, die Schönheit Marokkos kennenzulernen. Vollbepackt stand mein Velo im Innenhof der Basler Werbeagentur, meinem damaligen Arbeitsplatz, bis ich am Mittag voller Tatendrang das Velo auseinanderschraubte und verpackt im Zug nach Milano nahm. Nur so war eine Velomitnahme möglich. Und leider war es auch der Grund, weshalb ich fast die Fähre verpasste. Denn durch Verspätungen hatte ich nur 7 Minuten Umsteigezeit in Milano. Mein Fahrrad wog circa 17kg und war auseinandergeschraubt und verpackt in einer grossen Tasche, das restliche Gepäck, etwa 35kg, transportierte ich eingewickelt in meiner Plane. Ich packte also die Fahrradtasche und rannte durch die Menschenmenge zu meinem Anschlusszug nach Genua, platzierte sie am Gleis und rannte zurück und holte meine restlichen Taschen. Doch es war zu spät, vor mir schloss die Türe und der Zug brauste nach Genua. Ich organisierte mir Tickets für eine alternative Verbindung, bei der ich mehrmals umsteigen musste. Meine Beine und Arme waren übersät von blauen Flecken und ich sah aus, als hätte mich ein Zug direkt überrollt. Mir wurde klar, dass selbst, wenn ich es nach Genua schaffe, es sehr knapp wird, das Schiff zu erreichen. Denn vom Bahnhof zum Hafen musste ich weitere 30 Minuten fahren und vorher noch mein Fahrrad zusammensetzen. Im Zug liefen mir die Tränen herunter und ich musste mich konzentrieren, nicht laut loszuheulen. Ich konnte den ganzen Tag noch nichts essen und hatte kaum was getrunken, mich überfiel das Gefühl, dass meine Welt auf mir zusammenfällt. Kurz vor Genua hatte ich mich aber wieder beruhigt und ich setzte alles daran, das Schiff zu erreichen. Ein junger Italiener half mir, meine Taschen aus dem Zug zu tragen und in Eile schraubte ich mein Fahrrad zusammen und brauste in die Nacht. Doch der Eingang des Hafens war geschlossen. Ich sah auch kein Schiff, alles war dunkel und verlassen. Ich kontrollierte mein Ticket und sah, dass das Fährunternehmen spontan einen anderen Hafen ansteuerte, der fast beim Bahnhof lag. Der Rest der Nachricht las ich fahrend und raste zurück. Da ging alles sehr schnell. Rasch werde ich kontrolliert und mit einer Eskorte zum Schiff geführt. Ich fuhr in den Bug, das Tor wurde geschlossen und das Schiff legte ab.
55 Stunden Wasser
Ich platzierte mich auf ein rundes Sofa direkt neben der Bar und wusste, dass ich diese 3 Tage auf dem Meer wirklich nötig habe. Einfach 3 Tag nichts tun und auf diesem runden Sofa liegen. In der Bar kaufte ich ein grosses Pizzastück und ein Bier für wenig Geld und langsam liess mich die Anspannung los.
Die Einreise nach Marokko fand auf dem obersten Deck statt. Das Office war übersät von Männern, die rufend mit ihren Pässen nach vorne drängelten. Ein älterer Mann packte meinen Pass und verschwand damit in der Menge. Bevor ich realisieren konnte, was genau passierte, kehrte er mit meinem frisch gestempelten Pass zurück. Absurd, aber funktionierte. Am ersten Tag auf See kam ich ins Gespräch mit zwei slowenischen Motorradfahrern. Sie hatten auch keine Kabine gebucht und platzierten sich in der Lounge neben der Sportsbar. Mehrmals besuchten wir einander, um mit einem Bier anzustossen. Das Schiff nach Marokko war übersät von Männern ohne Kabine. Auf jedem Stuhl, jedem Sofa, in jeder Ecke türmten sich Wolldecken und darauf teetrinkende Marokkaner. Ich hatte mich auch gegen eine Unterkunft entschieden, denn der preisliche Unterschied war massiv. Regelmässig wurde mir ein sehr gezuckerter Tee gebracht und teilweise wollte man im Gegenzug meine Nummer. Das war der Vorgeschmack, von allem, was mich in Marokko erwartete.
In Begleitung
Es war eine dankbare Abwechslung, als ich Jofre kennenlernte. Ein katalanischer Motorradfahrer, der in Barcelona dazu stieg und fast mein Sofa stibitzte, weil ich noch auf Deck war. Doch wir fanden einen Weg, dass beide auf dem mondförmigen Sofa einen Platz fanden. Über 48 Stunden hatten wir auf diesem Sofa verbracht und hatten spannende Gespräche über alles mögliche. Um 3 Uhr morgens des vierten Tages erreichten wir den Hafen von Tangier. Für mich ging es direkt in die Berge für mindestens 2 Tage, doch ich musste vorher noch Essen und Trinken organisieren. Bei der Bar neben meinem Sofa gab es nur 2dl Wasserflaschen, also kaufte ich mir etwa 15 Stück und füllte damit meinen Wassersack. Jofre und die slowenischen Motoradfahrer konnten sich ein Lachen nicht verkneifen.
Als ich voller Tatendrang mit dem Velo aus dem Schiff in die Dunkelheit fuhr, fühlte ich mich beobachtet. An fast jeder Stelle waren Menschen versteckt, die versuchten auf ein Schiff nach Europa zu klettern. In jedem Spalt, unter fast jedem Lastwagen, auf allen Containern waren Menschen. Kurz vor dem Ausgang des Hafens bei der Passkontrolle kam es zu einem langen Stau. Auf der anderen Seite des Zauns waren verschiedene Hafenmitarbeiter, die mir anstössige Dinge nachriefen. Jofre, der zur gleichen Zeit das Schiff verliess, fuhr mit seinem Motorrad zwischen mir und dem Zaun und spielte mit seinem Motor, so dass man die Sprüche nicht mehr hören konnte. Der Polizist bemerkte, was vor sich ging und lies mich vor. Jofre wartete etwas ausserhalb in einem Cafe auf mich. Und wir schlugen die Stunden tot, bis die Sonne kam.

Im grünen Norden
Für mich ging es mit einer fast 20% Steigung in die grüne Hügellandschaft und ich erlebte einen wunderschönen Sonnenaufgang. Ein junger Mann half mir wortlos, mein Velo hochzuschieben. Ich fuhr durch grüne Landschaften, entlang diversen Seen und Felder. Jofre erzählte mir, dass man im Norden des Landes viel Marihuana anbaute und man die Arbeiterinnen auf der Strasse singen hörte. Und tatsächlich nahm ich den Gesang immer wieder wahr. Gegen Ende des Tages erreichte ich eine dicht befahrene Strasse, die einen Berg hochschlängelte. Mit meinem langsamen Tempo wurde ich immer wieder Ziel von Belästigungen jeglicher Art. Autos fuhren in meinem Tempo neben mir her, teilweise streckten Männern ihre Arme raus und versuchten mich zu berühren. Von fünf Autos, kam mindestens aus drei Autos ein Kommentar, ein Hupen oder ein Anmachversuch. Meine innere Wut steckte ich in meine Beine und die 1000 Höhenmeter vergingen wie im Flug. Als ich auf dem obersten Punkt war, war es bereits dunkel und ich musste dringend ein Schlafplatz finden. Ich entschied mich, den Berg runterzufahren und entdeckte ein steiniges Flussufer abseits der Strasse. Im Dunkeln stellte ich mein Zelt auf und war gespannt, wie der Ort am Morgen aussehen würde. Bei Sonnenaufgang schaute ich mir die Umgebung genauer an und entdeckte etwas Abseits von meinem Zelt zwei Männer, die sich nicht durch mich stören liessen.



Die blaue Oase
Ich startete meinen letzten Anstieg nach Chefchaouen, diese blaue, touristisch beliebte Stadt hoch in den Bergen. Unter einem Orangenbaum auf halber Höhe entschied ich mich für eine Pause. Ein Auto folgte mir auf dem Feldweg und der Fahrer beobachtete mich aus dem Fahrzeug. Ich griff zu meinem Smartphone und führte ein langes Selbstgespräch und war gespannt, wie lange der Mann neben mir ausharren wird. Und es erwartete mich ein amüsantes Schauspiel, wie der Unbekannte seine Zeit totschlug. Zuerst schaute er seine Räder an, dann machte er ein paar Fotos von der Aussicht, schaute nochmals die Räder an, öffnete die Motorhaube, schloss sie wieder, lief paar Runden um sein Auto. Als er merkte, dass mein Telefonat noch eine Weile dauern würde, stieg er ein und fuhr zurück auf die Strasse. Dieser Telefon-Trick habe ich in dieser Zeit noch paar Male angewendet, er funktionierte erstaunlich gut.
Angekommen in Chefchaouen suchte ich mir ein Hostel und tauchte in die blaue Oase. Unterwegs kam ich ins Gespräch mit einer jungen Frau aus Mauritius. Sie war auch allein in Marokko unterwegs und wir verbrachten einen schönen Abend zusammen. Es war der 24. Dezember 2019.
Am nächsten Tag zerlegte ich mein Fahrrad wieder in Einzelteile und wartete beim Bahnhof auf meinen Bus, der mich nach Fès brachte. Im Bus sass ich neben Mehdi, ein Student mit reichen Eltern. Er erkundigte sich, wie mich die marokkanischen Männern bisher behandelt haben. Er war etwas schockiert, aber nicht überrascht. Wir tauschen Nummern, und er versicherte mir, mir zu helfen, wenn ich ein Problem habe.

In Fès fand ich ein schönes Hostel in einer Riad, also einem traditionellen marokkanischen Haus mit einem Garten als Innenhof in der Mitte. Als ich die Medina, die Altstadt entdeckte, traf ich Philipp, Anfangs Dreissig, aus Deutschland. Wir verabredeten uns am Abend und feierten zusammen Weihnachten in einem klassischen marokkanischen Restaurant. Es war so spannend zu beobachten, wie schnell ich von der Mitte der Aufmerksamkeit an den äussersten Rand geschoben wurde. Neben Philipp hat man mich kaum beachtet, aber sobald ich wieder allein war, drehte sich alles nur um mich. Mir tat diese Pause sehr gut und ich schlug vor, den nächsten Tag zusammen zu verbringen. Sofort wirkten wir, wie ein klassisches Pärchen auf Städtetrip und wurden Zielscheibe von jeglichen Teppich- und Lampenverkäufern. Aber das war so belanglos, dass es wie eine Pause war.
Am Rande der Wüste
Am nächsten Tag ging es für mich weiter mit dem Bus nach Errachidia, also einmal quer über den Atlas. Dort traf ich Aziz, wir hatten kurz vorher bereits Kontakt und er lud mich ein, bei ihm zu schlafen. Seine Mutter zeigte mir auf dem Dach des Hauses einen wirklich sehr kleinen Stall mit extrem vielen Kaninchen drin. Aziz erklärte, dass sie im Sommer regelmässig auf dem Dach schlafen, weil es im Haus zu heiss wird. Erachidia liegt am Rande der Wüste und ist häufiger Ausganspunkt aller Wüstenexpeditionen. Doch die Wüste werde ich ein anderes Mal bereisen. Zum Erstaunen der ganzen Familie von Aziz. Noch am gleichen Abend durfte ich die Familie zu einem kleinen Fest begleiten. Es gab reichlich Essen und ich musste meine Französisch Kenntnisse beweisen. Eine ältere Frau lud mein Teller immer aufs Neue voll mit Essen. Am Schluss schenkten sie mir aus Palmblättern gefaltete Kamele.
Früh am nächsten Morgen verabschiedete ich mich und fuhr durch endlose Steppen. Auf der rechten Seite türmte sich den Atlas mit weissen Gipfeln auf und links von mir war eine sandige Weite. Ich war immer noch ständigen Anmachversuchen ausgesetzt und nutzte die Zeit, meine Strategie zu perfektionieren. Ich realisierte, dass das Interesse vor allem meinem Europäischem Pass galt. Also stellte ich mich neuerdings als Russin vor und reihte einfach alle russischen Wörter nacheinander. Das Interesse verfolg deutlich schneller.




Ich sah auf meiner ganzen Reise eine einzige marokkanische Frau am Steuer. Frauen waren hauptsächlich in den Häuser am Kochen oder am Fluss am Kleider waschen, ansonsten hatte ich kaum Berührungspunkte. Die Strasse gehörte den Männern. Schon von weitem sah man mein Fahrrad, und von nahem sah man, dass ich eine Frau war, und von ganz nah, war es unvermeidlich zu erkennen, dass ich eine Europäerin war. All diese Faktoren hatten dazu geführt, dass fast in jedem Auto jemand mit mir sprechen wollte. Vielen machten sich grosse Sorgen um mich und suchten Busverbindungen für diese Strecke oder versicherten mir, dass ich unmöglich hier weiterfahren kann, es sei zu gefährlich und mein Fahrrad sei zu schwer. Selbst wenn ich gemütlichen neben meinem Velo eine Pause einlegte, eilten viele zu mir, um sicherzugehen, dass alles gut sei. Immer wieder kam die Frage, was ich den machen würde, wenn ich was reparieren müsste und kein Mann dabei sei. Selbst zurück am Hafen, als mich ein Polizist aus dem Verkehr zog, um nachzufragen, wo ich durchfahren werde, erzählte ich ihm von meiner abgeschlossenen Route. Seine Antwort war: «Non, ça c’est impossible.»
Es war schwierig, durch dieses Land zu reisen, in dem einem Nichts zugetraut wurde.

Bin ich das Problem?
Auch Online musste ich mir einiges anhören, was ich denn erwarten würde, wenn ich durch solche Länder fahre und wie leichtsinnig ich sei. Schliesslich waren kürzlich zwei Schwedinnen im Atlas umgekommen. Meine Antwort war immer, dass ich mein Leben lang eine Frau sein werde, mein Leben lang Femiziden ausgesetzt bin und ich nicht bereit sei, mich deswegen einzuschränken. Schliesslich leben dort auch Frauen, die mit diesem Verhalten umgehen müssen. Eines Morgens erreichte mich eine Nachricht auf Instagram einer marokkanischen Frau.
I am so happy about the fact that you inspired so many women throughout Morocco that saw you defy the odds and display such autonomy and courage against all fear-based advice in such a male-dominated culture.
I think you had more effect on the mindset of local women and their daughters than you will ever know.
Und dieser letzte Satz brannte sich in meinem Kopf ein und half mir mich jeden weiteren Tag auf den Strassen Marokkos durchzusetzen.

Doch es war auch so, dass ich eine Art Ablehnung entwickelte gegenüber allen Männern. Sobald ich einen Mann am Strassenrand sah, staute sich in mir eine Wut auf, und wenn er tatsächlich mein Aussehen kommentiere, was leider doch sehr oft passierte, entlud sie sich. Und das machte mich so traurig, weil ich viel über männliche Velofahrer in Marokko gelesen habe und von ihren Erlebnissen und Berührungen mit der Kultur und den Menschen begeistert war. Einer erzählte mir, von grossartigen Gesprächen und Teepausen mit Lastwagenfahrern. Ich hingegen wurde von dieser Gruppe oft von der Strasse gedrängt und immer wieder gefährlich überholt, um mich zum Anhalten zu zwingen. Immer wenn ich einen Lastwagen sah, lief es mir kalt den Rücken runter. Ich fand es so schade, dass mir natürliche Begegnungen mit den Menschen verwehrt blieben.

«Dein Freund wartet auf dich»
Die Sonne schien tief über die steinige Landschaft und färbte alles in Gold. Ich wusste, dass ich bald einen geeigneten Schlafplatz finden muss. Ich war ausgelaugt und völlig am Ende. Die Begegnungen mit den Männern auf der Strasse durch den Tag hindurch raubte mir meine gesamte Energie. Erschöpft suchte ich mir an einer ruhigen Strasse einen Stein zum Sitzen und mein weiteres Vorgehen zu überlegen. Und während ich online nach einem geöffneten Hotel suchte, versammelte sich eine Horde junger Männer um mich und mein Fahrrad und riefen mir Wörter zu, die ich zum Glück nicht verstand. Wortlos griff ich nach meinem Velo und fuhr der untergehenden Sonne entgegen. In mir war eine Mischung aus Wut und Traurigkeit. In 15km sollte ein Guesthouse sein. Das war mein einziger Lichtblick und meine einzige Möglichkeit von der Strasse weg zu kommen. Doch als ich vor dem angeblichen Guesthouse stand, war da nichts, ausser einer alten Garage ohne Tür. Die Sonne war bereits weg und ich war am Ende. Ich sah zwei Männer am Strassenrand und fragte, ob es hier ein Hotel gibt. Das Dorf war klein und sah nicht touristisch aus. Ich hatte meine Hoffnung bereits aufgegeben. Doch wortlos deutete einer der Männer an, ihm zu folgen. Vor einem grossen Metallzaun blieben wir stehen und er schlug mit seinen Fäusten ewigs gegen das Metall, bis jemand öffnete. Die junge Frau schaute durch den Spalt des Tors, sah mich an und sagte; «ah, come in, your Boyfriend is already here.» Sie öffnete das Tor und hinter ihr erschien ein grosses Hotel, dass so gar nicht in dieses kleine Dorf passt. Alles schien surreal, inbesondere als sie mich beim Checkin fragte, ob ich mit meinem angeblichen Boyfriend das Zimmer teilen möchte. Ich lehnte dankend ab. Als sie mir zeigte, wo ich mein Fahrrad parkieren könnte, wurde mich auch klar, warum sie dachte, dass es da einen Freund von mir gäbe. Denn in der Garage steht ein zweites vollbepacktes Fahrrad. Es gehörte Simon, ein Familienvater aus Deutschland. Und wir beide waren tatsächlich die einzigen zwei Gäste in diesem riesigen Hotel. In einem Labyrinth von Tischen haben wir uns einen ausgesucht und wurden von einem ganzen Team vom Service Personal bedient. Es war fast etwas peinlich. Aber ich verstand, weshalb der Zimmerpreis das zehnfache von den vorherigen Hotels und Riads betrug. Simon erzählte mir, dass er in den Bergen Marokkos mehrmals von jungen Männern mit Steinen beworfen wurde. Wir waren durch unser Geschlecht mit anderen Problemen konfrontiert. Den nächsten Tag fuhren wir zusammen und es war wie Ferien in den Ferien, denn zusammen wurden wir weder belästigt noch beschossen.

Kurz nachdem Simon eine andere Route einschlug, hörte ich eine Klingel hinter mir, als ich auf einer verlassenen Strasse fuhr. Ich drehte mich um, und ein Fahrradfahrer winkte, als würden wir uns kennen. Es war Etienne, ein französischer Reisender. Mit Etienne unterwegs zu sein, war sehr interessant. Seine gesamte Reise schien planlos und chaotisch. Er hat sich ein Navigation Gerät gekauft, aber hat vergessen, die Karte von Marokko herunterzuladen. Also fuhr er einfach einer violetten Linie entlang, die sich durch eine schwarze Karte zieht. Auch sein Schafsack war einfach eine riesige, schwere Decke, die trotz der Grösse nicht warm genug für die kalten Nächte im Atlas war. Wir verbrachten den Rest des Tages zusammen und feierten den Jahreswechsel. Wir lernten einen weiteren marokkanischen Fahrradfahrer, Jamel, kennen, der sich uns anschloss, als wir durch Ouarzazate schlenderten auf der Suche nach einem ausländischen Hotel, das Alkohol verkaufte. Etienne erzählte mir dabei, wie sehr er unter dem Entzug leide, denn in Marokko ist es schwierig an Alkohol zu gelangen. Er war schon mehrere Monate unterwegs, deswegen nahm ich an, er sprach von seiner gesamten Reisezeit. Doch er sprach vom Entzug, weil es länger als 2-3 Tage dauerte. Auf jeden Fall war Etienne am nächsten Morgen stark verkatert. Deswegen verbrachte ich den Morgen mit Jamel. Er erzählte mir von seiner Familie, die als Nomaden durch die Wüste zogen. Aber durch den Tod seines Vaters wurde die Familie sesshaft. Er half mir meine weitere Route über den Atlas zu planen. Er war einer der Wenigen, der nie an mir gezweifelt hat.
Tizi n’Tichka
Ich bog von der Hauptstrasse ab und folgte der kleineren Strasse, die ebenfalls über den Atlas führen soll, aber weniger bekannt sei. Auf der rechten Seite tauchten zwei Dromedaren auf, daneben war ein alter Mann. Ich fragte ihn auf Französisch, ob diese Strasse tatsächlich über den Atlas führte. Er bestätigte und lud mich auf eine Tasse Tee ein. Ich war immer sehr zurückhaltend, insbesondere bei Einladungen von Männern ohne Begleitung von Frauen. Doch war ich auch enttäuscht von mir, immer das Negative zu sehen und vielleicht tolle Begegnungen zu verpassen. Also sagte ich zu und setzte mich auf einen Stein, während er bei einem kleinen Lehmunterstand Wasser kochte. Ein kleiner Junge tauchte auf und wir schauen uns gemeinsam ein Gästebuch an. Anscheinend kann man seine Tiere buchen und mit ihnen einen Spaziergang in der Steppe machen. Jedenfalls lese ich das aus den Kommentaren im Gästebuch. Plötzlich streichelte der alte Mann meinen Rücken und begann zu erklären, dass er gerne eine Frau aus Frankreich hätte. Ich sprang auf und rannte zurück zu meinem Velo. Er packte mich am Arm und versuchte mich auf den Hals zu küssen. Zum Glück konnte ich mich befreien und raste mit dem Velo davon. Noch etwas verstört, was gerade passiert war, suchte ich mir abseits der Strasse ein Platz für mich allein, wo ich eine Pause von den Männern Marokkos einlegen kann. In diesem Moment verflog auch der letzte Wille, was Gutes in ihnen zu sehen. Nicht mal ein Mann, im Alter meines Grossvaters, der mit seinem Enkel unterwegs war, schaffte es nicht, mich nicht zu belästigen. Ich war sprachlos und angewidert. Ich lag auf einem Felsen oberhalb von Ait Ben Haddou und beobachtete Frauen, die in einem Feld arbeiteten. Ich musste mich wieder beruhigen, bevor ich bereit war, in die touristische Stadt zu tauchen. Sie war Schauplatz von zahlreichen Filmen, weshalb es sehr beliebt ist, sie zu besuchen.
Ich war noch in meinen Gedanken vertieft, als mich ein junger Mann fragte, ob ich von ihm und seinen Freunden ein Foto machen könne. Dadurch kamen wir ins Gespräch und ich fragte, ob ich mich für den Nachmittag ihnen anschliessen darf. Es war eine kleine Gruppe aus Holland, die die Zeit in Marokko mit Surfen verbrachte. Es tat mir so gut, auf andere Gedanken zu kommen und als Gruppe die Stadt zu besuchen. Bis spät waren wir in einer Bar und diskutierten über alles Mögliche. Ich buchte mir ein Hotel etwas ausserhalb der touristischen Masse. Doch als ich im Dunkeln ankam, war doch kein Zimmer mehr frei. Die Mutter des Hoteliers, bot mir an, dass ich bei ihr übernachten dürfe. Also platzierte ich meine Matte direkt neben ihrem Bett und wir kochten zusammen Tajine. Sie versprach mir, am Morgen Frühstück bereit zu stellen und wollte wissen, wie lange ich schlafen werde. Da ich am nächsten Tag den Atlas überqueren wollte, startete meinen Tag entsprechend früh. Ich realisierte, dass sie die Zeit nicht lesen kann und ich musste ihr zeigen, wo die Zeiger stehen sollten. Und tatsächlich, als ich aufwachte, war sie bereits in der Küche und bereitete mir ein Frühstück und ein Snack vor. Beim Verabschieden sagte sie: «je suis ta mère maroque.»

Und von da ging es einfach hoch. Über hundert Kilometer kurvte ich die Serpentinen hoch und erreichte kurz vor Sonnenuntergang den Tizi n’Tichka Pass.
Ein Mann eilte herbei und fragte, wo mein Fahrrad die Batterie versteckt hat. Er bot an, ein Foto zu machen. Leider sah ich das Foto erst später, es ist das ideale Beispiel, dass eine gute Kamera, noch lange kein gutes Bild macht.
Etwas abseits der Strasse suchte ich mir ein verstecktes Plätzchen und verbrachte die Nacht auf 2200 Meter im hohen Atlas unter tausend Sternen.
Königlicher Empfang
Dass ich am selben Tag wie der König in Marrakesch eintraf, war ein lustiger Zufall. Den ganzen Tag hatte ich mich gefragt, weshalb so viele gutgekleidete Menschen an den Strassenrändern warteten. Viele hatten Blumen dabei und platzierten sich mit einem Stuhl auf beide Seiten der Strassen. Auch stand alle 50 Meter ein Soldat. Alle grüssten mich freundlich, und ich grüsste freundlich zurück. Es war ein witziges Bild. Marouam wartete in Marrakesch auf mich. Er wohnte in einer geteilten Wohnung mit anderen Studierenden und es war verboten, Frauen aufzunehmen. Deswegen hatte ich mich immer unter einer Kapuze versteckt. In der Küche erzählten mir die drei Männern, wie gerne, sie Europa bereisen würden, aber dass es in ihrem Alter und unverheiratet unmöglich sei. Deswegen waren sie immer glücklich, wenn sie Reisende aufnehmen können und so, immerhin etwas Fremdes mitkriegen. Der Zustand ihrer Wohnung schockierte mich. Die Fliesen waren überzogen mit einer Kalk- und Schimmelschicht. Der Boden war nass, weil das Lavabo im Bad tropfte. Die Küche war alt und minim ausgestattet. Das Geld sei sehr knapp, erklärte mir Marouam. Er zeigte mir mein Zimmer und ich legte meine Matte auf einem Teppich aus. Es war ein ehrlicher Einblick in das Leben von gleichaltrigen Marokkaner, die trotz kleinem Einkommen mich beherbergten und sich um mich gekümmert haben.
Den Nachmittag verbrachte ich auf der Rückseite des Rollers von Marouam und er zeigte mir die Medina von Marrakesch und wir trafen Ikram, seine beste Freundin. Zu dritt wanderten wir auf einen grossen Felsen und sehen die unendliche Stadt im untergehenden Sonnenlicht. Es war wirklich schön und fühlte sich so vertraut an, als würde man sich schon ewig kennen.
Als sich Ikram verabschiedete, gingen Marouam und ich in eine Bar. Es war mein letzter Abend in Marrakesch. Nach einer Weile fiel mir auf, dass ich die einzige Frau in der gesamten Bar war, die nicht als Prostituierte gearbeitet hat. Mir wurde bewusst, dass so unmöglich ein gesundes Frauenbild entstehen kann. Nicht dass es das Verhalten der Männer legitimieren würde, half es mir trotzdem, zu verstehen.


Im Bus nach Casablanca
Etwas hatte mich am Bein gestochen. Schlagartig riss ich es in die Höhe und fühlte mit den Fingern die Feder, die aus dem Sitzkissen im Bus durch das Leder stach. Aus Angst meine Hose zu zerreissen, platzierte ich mich etwas schräg mit überschlagenen Beinen auf den Sitz Nr. 26. Ich war auf dem Weg nach Casablanca und sah beim Losfahren der Sonne beim Untergehen zu. Ich schloss kurz die Augen, den Kopf immer noch zum Fenster gerichtet, als der Mann neben mir den Vorhang schloss. Ich drehte meinen Kopf weg und spürte, wie müde ich war. Doch statt einzuschlafen, beschleichte mich das Gefühl, etwas feines streichelte meine linke Seite vom Oberschenkel. Ich überschlug die Beine anders und hörte noch das Rascheln vom ruckartigen Zurückziehen und fühlte, wie die Hand verschwindet.
War das jetzt Absicht? War das nur meine Jacke? Ich sass da und machte nichts. Langsam fühlte ich wieder eine Hand, die zurück zu meinem Oberschenkel wanderte. Ich schaute nach unten, doch ich sah nichts, der Vorhang war geschlossen. Es war dunkel. Ich war unsicher. Sollte ich ihm was sagen, sollte ich zum Busfahrer? Noch während ich alle möglichen Szenarien vor den Augen durchspielte, spürte ich, wie die Hand wieder meinen Oberschenkel kniff. Sofort verlor ich alle Kraft, und spürte durch meinen ganzen Körper ein sehr unangenehmes Kribbeln. Wie, wenn man bei einer Luftmatratze die Luft rausliess, verliess mich hier meinen kompletten Mut. Ich schämte mich und ekelte mich. Befreite meine Beine, stand auf und wackelte mit sehr unstabilen Schritten zum Busfahrer. Der Busfahrer hörte Musik, trug Kopfhörer und seine Aufnahmefähigkeit war eher mit den restlichen schlafenden Passagieren zu vergleichen. Ich erklärte ihm alles auf französisch. Nichts. Keine Reaktion. Ich fragte nach: «Est-ce que tu parles français?» «Oui» Also erklärte ihm alles nochmals, zeigte auf den Sitz neben ihm und schaffte noch mit sehr unsicherer Stimme «Je ne sens pas secure» zu sagen. Er zeigte auf die Ausfahrt, blinkte, schaltete das Licht im Bus ein und rief, dass alle sofort aufwachen müssen.
Ich sah noch, dass ein Mann bei der hinteren Türe ins Freie sprang. «Whats wrong, what happened?», fragte ein Marokkaner hinter mir. Ein Mann holte meinen Rucksack bei meinem Sitz und sagte, des der Nachbarssitz leer war. Ein anderer Mann brachte mir etwas Wasser. Einer bot an, die Plätze zu tauschen. So dass ich neben seiner Frau sitzen könne. Schnell organisierte man den Bus um, und es bildete sich einen Teil im Bus, in dem nur Frauen waren. Ich war in der Mitte. Vor dem Bus sammelten sich eine Horde Männer, die wissen wollten, wie er ausgesehen hat, so dass man die Polizei rufen kann. Aber ich wusste es nicht mehr. «Hes lucky, if the people know, what he did, they will beat him», rufte einer dazwischen. Eine Frau kam zu mir, und entschuldigte sich. Es täte ihr leid. So etwas ist unglaublich widerlich, unbeschreiblich eklig. Ein anderer Mann sagte: «Im shocked, im moroccon. Thats not supposed to happen. Please erase that. And i hope you had a beautiful stay in Morocco. » Ja, das hatte ich. Ich hatte herzensgute Menschen kennengelernt, durfte in eine wunderschöne Kultur eintauchen, durchquerte Landschaften, die mir jedes Mal aufs Neue den Atem geraubt haben. Ich hatte das Pech, direkt neben den Idioten gesetzt zu werden, in einem Haufen toller Menschen. Kurz vor Casablanca kam eine dickere, alte Frau zu meinem Sitz und sagte was auf arabisch, was ich deutete, ich sollte mit ihr gehen. Zusammen verliessen wir den Bus und sie schaute jeden Mann böse in die Augen. Sie wartete mit mir am Bahnhof, bis ich mein Fahrrad hatte und bis mich Sami abholte.
Eine Stadt, in der es nichts zu tun gibt.
Sami ist ein marokkanischer Filmemacher, der mich eingeladen hat, bei ihm zu übernachten. Er wohnte mit seinem Bruder, seinem Cousin und seiner Mutter zusammen. Alle waren schockiert, als ich ihnen von meinen Erlebnissen im Bus erzählte und waren bemüht, mich auf andere Gedanken zu bringen. Mit Sami und seinem Cousin reisten wir am nächsten Tag nach El Jadida, eine kleine Hafenstadt. Denn, laut Sami, gibt es in ganz Casablanca nichts zu tun. Dort besuchten wir Verwandte von ihnen und schlenderten über die hohen Mauern des Hafens. Es war gemütlich und lustig. Sami konnte mir viele offene Fragen beantworten, die sich während dieser Reise in meinem Kopf festsetzten. Es war sehr spannend, so hautnah das Leben der jungen Menschen in Marokko zu erleben. Den Abend verbrachten wir mit einem Bier am Strand und beobachteten einen wunderschönen Sonnenuntergang.
Am nächsten Tag nahm ich meinen letzten Bus nach Tangier. Zurück zur Hafenstadt, wo eine Fähre mich nach Italien zurückbrachte. Doch leider hatte der Bus starke Verspätung. Ich kam also nicht wie geplant am Abend an, sondern um 4 Uhr morgens an. Die Nacht hätte ich bei Jail verbracht, doch ich musste ihm absagen. Er erwiderte, dass ich trotzdem, egal wann der Bus ankommen wird, zu ihm fahren solle. Der Hafen von Tangier ist nicht in der Stadt selbst, sondern recht ausserhalb. Und um ihn zu erreichen fährt man einer steilen Küstenstrasse entlang. Ich stimmte ihm zu, dass mir etwas Schlaf gut tun würde und fuhr eine Stunde zu ihm, um ihn aus dem Schlaf zu Klingeln. Wortlos half er mir, meine Taschen in seine Wohnung zu schleppen. Er zeigte mir seine Couch und ich schlief sofort ein. Als ich am Mittag erwachte, lag neben mir ein frisch gemachtes Frühstück und ein Brief mit einer Nachricht von Jail. Er sei bei der Arbeit und ich solle den Schlüssel seiner Wohnung unter die Fussmatte legen. Rasch duschte ich, packte das Frühstück ein und begann mit dem letzten Tag meiner Velo Reise. Die steilen Abschnitte der Küstenstrasse unterschätzte ich und war dankbar um das Frühstück meines Gastgebers. Knapp hätte ich das Check-in verpasst. Meine Taschen wurden komplett abgetastet und durchsucht. Sogar mit Hunden. Es war surreal, wie gründlich alle Autos auf Menschen durchsucht werden.
Die Fähre hatte Verspätung. Über 4 Stunden wartete ich in der Kälte, bis am Horizont endlich die Fähre sichtbar wurde. Eine Frau, die ursprünglich aus Zürich kam, bat mich in ihr Auto. Diese Einladung nahm ich dankend an. Sie erzählte, dass sie ihm Auto lebt. Zusammen mit ihren 3 Katzen und 2 Hunden. Sie war eine interessante Persönlichkeit, auch etwas verrückt. Nach einer Weile verabschiedete ich mich und wartete wieder in der Kälte. Ein Motorradfahrer betrachtete mein Fahrrad und meinte, er habe mich gesehen. Er hätte mich beim Anstieg vom Tichka Pass überholt. Und er gehe stark davon aus, dass es nur eine Frau gäbe, die mit dem Fahrrad in Marokko unterwegs wäre.
Ich sprach noch mit einem weiteren Mann. Beide etwas gebrochen auf Englisch. Bis wir herausfinden, dass wir beide aus Bern kommen. Ihn traf ich auf dem Schiff wieder und wir verbrachten die Tage zusammen. Er war mit seiner Freundin und seinem Bus unterwegs. Seine Freundin musste aber wegen ihrer Arbeit früher nach Hause. Da er dadurch einen Platz im Bus freihatte, bot er an, mich und mein Velo nach Bern zu fahren. Es stellte sich heraus, dass er der Besitzer des Campingplatzes Eymatt ist.
Meine Reise durch Marokko war unvergesslich, voller Höhen und Tiefen. Sie hat mich gelernt, über meine eigenen Grenzen herauszuwachsen und mich daran erinnert, dass Mut und Entschlossenheit keine Geschlechtergrenzen kennt.
